Das Hitlisten-Interview: „Ich bin jetzt ‚der Typ von TikTok‘“

Der Typ von TikTok

Darf uns gefallen, was auch viele andere schön finden, oder wäre das „langweilig“? Wollen wir hervorstechen oder in der Masse mitschwimmen? Welchem (Geschmacks-)Grüppchen ordnen wir uns zu? Ob es darum geht, welches Möbelhaus wir bevorzugen oder welche Autofarbe: Diese Fragen sind immer wieder spannend. Und die wohl größte Herausforderung dieser Art ist die Wahl eines Babynamens. Geht es dabei doch nicht um uns selbst – und um eine Entscheidung, die voraussichtlich ein Leben lang gelten wird.


Knud Bielefelds Liste der 1.000 beliebtesten Babynamen von 2023, die der Experte pünktlich zum Jahresende vorgelegt hat, sieht man nicht an, wie schwer oder leicht sich die Eltern der mehr als 280.000 von ihm erfassten Babys mit der Auswahl getan haben. Doch es lassen sich klare Vorlieben ausmachen; insbesondere auf die beiden Spitzenreiter Emilia und Noah konnten sich wie schon im Vorjahr besonders viele Eltern einigen. Eindrucksvoll wird von den langen Listen auch bewiesen, dass Individualität bei Namen hierzulande einen sehr viel höheren Stellenwert hat als etwa bei Autolack (kleiner Exkurs: 2023 wählten laut dem Verband der Automobilindustrie acht von zehn Neuwagenkäufer*innen Grau bzw. Silber, Schwarz oder Weiß).

Was er bei den menschlichen „Neuzulassungen“ des Jahres noch beobachten konnte, schildert Knud Bielefeld in unserem Interview. Dazu gibt er Einblicke in seine Arbeit und in die Reaktionen, die ihn insbesondere über seine Auftritte bei Instagram und TikTok in großer Zahl erreichen.

Annemarie Lüning: Du konntest dieses Jahr beeindruckende 40 Prozent aller Geburten erfassen. So viele waren noch nie Grundlage einer deiner Hitlisten …

Knud Bielefeld: Ja, ich habe mit meinem Team diesmal Namen aus 412 Städten zusammengetragen – aus Geburtsklinken und Standesämtern. Zur Einordnung: Es gibt derzeit in 456 Städten eine Geburtsklinik. Auf diese Zahlen bin ich schon ein bisschen stolz. Quasi „hinter den Kulissen“ pflege ich übrigens laufend weitere Namen in meine Datenbank ein. Für 2022 bin ich so mittlerweile auf einem Stand von 57 Prozent aller Geburten.

AL: Du veränderst daraufhin aber nicht laufend deine Toplisten des Jahres, oder?

KB: Richtig, die bleiben auf dem Stand, den ich Ende des Jahres veröffentliche. Alles andere wäre zu verwirrend. Durch die nachgetragenen Namen ergeben sich in der Regel nur minimale Änderungen. Für meine bundesweiten Top-Ten-Listen spielt es auch keine Rolle, ob ich wie 2022 34 Prozent oder wie dieses Mal 40 Prozent aller Babys berücksichtige. Was allerdings schon besser geht, je mehr Geburten ich erfasse, ist das Erstellen regionaler Hitlisten.

Hitlisten der Bundesländer

AL: Wenn ich mir die Hitlisten der Bundesländer anschaue, sehe ich da viele Namen, die nahezu überall auftauchen, der „Top-Ten-Pool“ ist nicht gerade riesig …

KB: Umso spannender sind die Unterschiede! Bayern und Sachsen stechen jeweils auf ihre Art heraus. In Bayern sind traditionellere Namen zu Hause wie Magdalena, Sebastian oder Xaver. Aus Sachsen kommen viele Retronamen: Alfred und Erna etwa. In Sachsen-Anhalt stammen die typischen Namen aus ganz unterschiedlichen Lagern: dem der alten und dem der „Ami-Namen“: Hailey und Helene, Jayden und Fritz stehen einträchtig nebeneinander. So ähnlich ist es auch in Mecklenburg-Vorpommern. Dieses Bundesland ist nach meiner Erfahrung eine besondere Ideenschmiede für Vornamenstrends. Neben „alt“ und „Ami“ sieht man hier auch Einflüsse aus Skandinavien. Auch Fiete, der die Hitlisten quasi im Sturm erobert, kam zuerst im Nordosten auf.

AL: In Nordrhein-Westfalen und Berlin steht Mohammed in den Top Ten …

KB: Mohammed rangiert besonders in Großstädten bzw. dort, wo es viele Städte gibt, weiter oben. Das hängt mit den Herkunftsländern der Muslime und den dortigen Namenstraditionen zusammen. In manchen Ländern heißt jeder Sohn mit erstem Namen Mohammed, auch wenn sein Rufname oft ein anderer ist. Ein weibliches Gegenstück in dem Sinne gibt es nicht. Überhaupt ist der muslimische Namensvorrat sehr vielfältig, noch mehr als bei uns.

Überraschung!

AL: Was hat dich bei deinen Auswertungen in diesem Jahr überrascht?

KB: Vielleicht nicht gerade überrascht, aber ich finde es schon bemerkenswert, dass Ben – der beliebteste Jungenname von 2011 bis 2019 – aus den Top Ten verdrängt wurde, während sein Vorgänger Leon – die Nummer eins von 2007 bis 2010 – noch immer vorne mitmischt. Aber Leon punktet natürlich auch sowohl mit dem L als seit Jahren sehr beliebtem Anfangsbuchstaben als auch mit seinem Doppelvokal, dem sogenannten Hiat.

Vergleich der Platzierungen der Jungennamen Leon, Ben und Noah in den letzten Jahren
Vergleich der Platzierungen der Jungennamen Leon, Ben und Noah in den letzten Jahren

Ein interessanter Name, der im letzten Jahr noch nicht in den Top 500 war, ist Millie – ich tippe hier auf die Schauspielerin Millie Bobby Brown („Stranger Things“) als Vorbild. Und als Rarität ist mir der Name Evanna begegnet, vermutlich nach Evanna Lynch, die in den Harry-Potter-Filmen Luna Lovegood gespielt hat. Tja, und dann gibt es noch meinen „Vornamen des Jahres“ Fio, den ich nicht nominiert habe, weil er besonders häufig wäre, sondern weil mich die Begründung „Wie Theo auf Englisch“, die ich dazu aufgeschnappt habe, regelrecht umgehauen hat.

AL: Welche neuen Trends konntest du beobachten?

KB: Auffällig ist, dass es immer mehr Unisex-Namen gibt. Wobei viele bei uns doch stark dem einen oder anderen Geschlecht zugeordnet werden. Nur bei wenigen, wie etwa Bente, ist die Verteilung Junge/Mädchen etwa fifty-fifty. Ich bin gespannt, wie es mit Taylor wird, also ob der Name durch die Popularität von Sängerin Taylor Swift für Jungen aus der Mode kommt.

Erlebnisse mit TikTok

AL: Du hast deine Social-Media-Aktivitäten, insbesondere bei TikTok, in diesem Jahr stark ausgebaut. Was hast du dabei erlebt?

KB: Lustigerweise bekomme ich hier viel Resonanz, wenn ich einfach bloß meine „Namen der Woche“ vorlese und zwar ohne jeden Schnickschnack, recht unemotional vom Blatt abgelesen. Ich nehme die Videos in unserem Garten auf, mit entsprechenden Störgeräuschen, und schneide nicht – und genauso muss das (lacht). Ehrlich gesagt provoziere ich dabei ganz gern mal, indem ich beispielsweise Jason deutsch spreche oder wie „Scheißn“ … das bringt Views. Für viele bin ich mittlerweile schon „der Typ von TikTok“.

AL: Wird nur deine Aussprache kritisiert oder gibt es auch inhaltliche Kommentare?

KB: Die gibt‘s auch. Mal wird gegen Eltern gepöbelt, angesichts „ausländischer“ Namen der Untergang des Abendlandes heraufbeschworen, da ist alles dabei. Manchmal habe ich auch Aha-Erlebnisse wie im Fall der Namenskombination „Mikel Angelo“: Nicht jeder denkt dabei zuerst an den Renaissancekünstler mit der Sixtinischen Kapelle; manchem fällt zuerst – oder auch ausschließlich – eine Figur von den Ninja Turtles ein.

AL: Was rätst du Eltern, die „bloß keinen häufigen Namen“ wollen?

KB: Ab etwa Platz 60 der Hitliste zu schauen könnte eine Lösung sein – etwa die Hälfte der Kinder trägt Namen, die auf den ersten sechzig Plätzen rangieren. Oder noch besser: Nehmt einen unbeliebten Anfangsbuchstaben, etwa das U (lacht). Aber im Ernst, und das kann ich gar nicht oft genug sagen: Lasst euch von Top-Ten-Listen nicht abschrecken! Wenn euch ein solcher Name gefällt, nehmt ihn einfach. Selbst Namen wie Emilia oder Noah dürften statistisch gesehen nur etwa in jeder vierten Schulklasse überhaupt einmal vertreten sein – so groß ist unsere Vornamensvielfalt heute. Zu Namensdopplungen kann es kommen, klar, aber das genauso gut bei selteneren Namen.

4 Gedanken zu „Das Hitlisten-Interview: „Ich bin jetzt ‚der Typ von TikTok‘““

  1. habe mal ein paar Videos angeschaut. Sehr sympathisch mit Meldeposten in der Natur und sehr freundliches Lächelgesicht am Ende. aber sag das nächste Mal bitte wieder Jason, du hast recht Sch… klingt nicht so gut. qed.
    Wir sind in Deutschland und man darf das deutsch aussprechen und sich auf den mythologischen Herrn mit dem goldenen Vlies berufen. Der Argonautenchef.

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    • Der mythologische Herr ist großen Teilen der Bevölkerung offensichtlich nicht bekannt und deshalb stößt es auf großes Unverständnis, wenn jemand den Vornamen Jason anders als englisch ausspricht. Mir persönlich gefällt dieser Name deutsch ausgesprochen viel besser. Naja, „besser“ ist ja die Steigerungsform von „gut“ und passt deshalb hier nicht wirklich.

    • Ich stimme Knud zu, meine Schüler sagen auch beim ersten Lesen „Dschäjson“, obwohl wir von der mythologischen Figur sprechen und er im Lateinischen Iason geschrieben wird

  2. Neben Millie ist ja auch Ilaria einer der auffälligeren Namen, die 2022 nicht in den Top 500 waren. Ich könnte mir vorstellen, dass die jüngste Tochter von Alec Baldwin – Ilaria Catalina Irena -, die im Herbst 2022 zur Welt kam, dafür mit verantwortlich ist, der Name war seither öfter zu lesen.

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