Der Friedhof, Namen und ich V

Der Friedhof, Namen und ich

Meine Vorliebe für Friedhöfe sollte inzwischen bekannt sein, immerhin ist dies hier mein fünfter Artikel in dieser Reihe (und damit meine bisher längste *freu*).


Es geht doch nichts über einen Spaziergang durch tiefgrüne Alleen, begleitet von Vogelgezwitscher und ein paar vorwitzigen Eichhörnchen mit ihren puscheligen Schwänzchen, die meine Wege kreuzen. Ab und zu begegnet mir auch eine kleine Maus oder ein großer Hase (für alle, die Probleme haben Hasen und Kaninchen auseinander zu halten, wenn ihr denkt „Oh, was für ein putziges rundes Häschen“ ist es ein Kaninchen, bei „Gute Güte, das Tier sieht aus, als wolle es sich gleich prügeln“ ist es ein Hase. Lest weitere Artikel für mehr dieser fundierten Tipps ).

Jesus am Kreuz

Dieses Mal bin ich gar nicht über einen Friedhof gelaufen, sondern besuchte mit meiner Mutter und meiner Schwester das „Museum am Dom“ in Trier (das Spielzeugmuseum, das wir zuvor besichtigt hatten, sorgte eher für Begeisterungsströme, da die aktuelle Dom-Ausstellung ziemlich gemäldelastig war und selbst ich nur eine begrenzte Anzahl an dem Motiv „Jesus am Kreuz“ ertragen kann). Aber an dem Pfingst-Wochenende war Tag des Museums und der Eintritt frei.

Solltet ihr einmal das wunderschöne historische Trier besuchen, ist ein Dombesuch natürlich ein Muss, egal ob ihr an Gott glaubt oder nicht. 1700 Jahre Geschichte in einem Bauwerk muss man einfach mal gesehen haben. Gegenüber dem Dom ist das Museum, das immer wieder wechselnde Ausstellung hat. Da der Domplatz zu Römerzeiten ein Wohnviertel war, ist ein Teil der Ausstellung dem römischen Leben gewidmet.

Spätrömische Grabsteine

Das Museum beleuchtet dabei auch den Übergang vom römischen zum christlichen Glauben, und zwar über spätrömische Grabsteine. Diese sind schon für sich betrachtet unfassbar spannend. Die Gräber stammen vom einem Gräberfeld nördlich der Porta Nigra. Dort wurden die römischen Christen in der Nähe ihrer Bischöfe beerdigt. Selbstverständlich wurde dort auch eine Kirche errichtet: Sankt Maximin. Schon vorher beerdigten die Römer ihre Toten außerhalb der Stadt, die Superreichen errichteten monomentale Gebilde, die man im Landesmuseum in Trier bestaunen kann. Aber auch alle anderen beerdigten ihre Toten, ließen Grabsteine anfertigen – einfache Platten, stellenweise mit Pflanzenmuster oder Vögeln verziert und natürlich einer Grabinschrift.

Viele, viele Namen

Und diese habe ich mir natürlich ganz genau angesehen. Noch mehr Gräber kann man im Landesmuseum bestaunen, aber dafür hatte ich an diesem Wochenende keine Zeit mehr. Aber auch so habe ich viele, viele Namen zu bieten.

Fangen wir mit dem ältesten Grabstein aus dem 4. Jahrhundert nach Christus an. Das Grab der kleinen Urbicia, welches aus einer Marmorplatte gefertigt wurde. Auf ihrem Grab ist zu lesen:

„Urbicia, dem süßesten Kind, das am 10. Tag vor den Kalenden des November starb. (Sie lebte) 2 Jahre, 4 Monate, 5 Tage.“

Das kleine Mädchen starb also am 23. Oktober. Häufig steht auch noch wer den Grabstein gestiftet hat, aber vielleicht hatte die Familie dafür kein Geld mehr.

Lebenslauf und Charaktereigenschaften

Manchmal wird auch der Lebensverlauf aufgeschrieben oder aber Charaktereigenschaften. Ich erinnere mich an eine Grabinschrift in einem Lateinarbeitsheft, in dem das „allersüßeste kleine Mädchen“ auch ein kleines Plappermäulchen war. Ich erinnere mich leider nur nicht mehr an ihren Namen. Urbicia ist vermutlich eine Variante des Namens Urbica, was vom lateinischen Wort urbs „Stadt“ kommt. Es handelt sich dabei um die weibliche Variante des römischen Gentilnamens Urbicius. Da die römischen Frauen häufig einfach den Gentilnamen als Vornamen bekommen (auch wenn Wikipedia das etwas anders darstellt), kann man davon ausgehen, dass Urbicias Vater aus den gens Urbicia kam.

Einst germanisch, nun christlich

Bevor ich nun noch tiefer in die Namenswelt eintauchte, möchte ich noch darauf hinweisen, dass wir uns in der spätrömischen Zeit in einem Teil des Reiches befinden, der einst germanisch war und nun vorrangig christlich geprägt ist. All das beeinflusst die Namenswahl natürlich. Auch lassen sich gallische Einflüsse spüren. So gibt es im Landesmuseum einen Grabstein einer gewissen Ursula, der von ihrer Mutter Arturia gestiftet wurde. Die Mutter trug noch einen germanischen Namen, einen sehr hübschen noch dazu, wie ich finde. Sie gab ihrer Tochter aber einen lateinischen Namen, noch dazu die Diminutivform ihres eigenen Namens.

Arturia kann man eventuell von dem keltischen Element *artos ableiten, was „Bär“ bedeutet. Dann hätte Arturia nämlich ihre Tochter Ursula „die kleine Bärin“ oder „das Bärchen“ genannt. Tatsächlich gibt es auch die gens Artoria und da ich wie erwähnt nicht nochmal im Landesmuseum war, bin ich mir nicht sicher, ob die Frau nun Arturia oder Artoria hieß. Aber die erste Variante und die Geschichte dahinter finde ich viel süßer. Ursula war zwischen 1920-1950 übrigens einer der beliebtesten Vornamen in Deutschland. Ursula ist einer dieser Namen mit wundervoller Bedeutung und heute schwierigem Klang.

Typisch römisch

Flavius wiederum ist ein typisch römischer Name, auf den ich in meiner Reihe „Bunt sind alle meine Namen“ bereits eingegangen bin. Ebenso klassisch römisch – trägt doch Caesars Mutter diesen Namen – und ebenfalls in der Reihe erwähnt ist der Name der kleinen Aurelia.

Ihr Grab haben ihre Eltern Amandus und Servanda gestiftet. Amandus ist kein komplizierter, aber heutzutage ein eher ungewöhnlicher Jungenname. Er stammt von dem lateinischen amare („lieben“). Der Name wurde in den letzten 13 Jahren lediglich ungefähr 100 Mal vergeben. Ein Mal habe ich ihn in den Babynamen der Woche gefunden. Ein bekannter Amandus ist ein Hamburger Bürgermeister, der im 18. Jahrhundert lebte und die Herzen von Alliterationsfans höher schlagen lässt: Amandus Augustus Abendroth. Der Name von Aurelias Mutter Servanda kommt wiederum vom lateinischen servare („retten“).

Unfassbare sechs Silben

Vermutlich nach dem Bischof wurde wiederum der kleine Maximilianus benannt, der im Alter von drei Jahren verstarb. Dies ist wie Amandus und Servanda kein römischer, dafür ein lateinischer Name mit unfassbaren sechs Silben. Der Name ist die Superlativform des Adjektiv magnus und bedeutet „der Größte.“

Urania hingegen wurde nach der gleichnamigen Muse benannt, der Göttin der Astrologie und Astronomie. Ihr Name stammt vom dem griechischen οὐράνιος (ouranios), was „himmlisch“ bedeutet. Weniger erhaben ist Rustecius‘ Name, eine Variante von Rusticus, was „bäuerlich“ heißt.

Einen ungewöhnlichen Namen für ihre Zeit trug Andrane. Der Name stammt wie Andrea von dem griechischen ἀνήρ (aner) Mann. Ihr Name bedeutet also „die Männin“. Ihr Grab hat ihr Mann Iovanius in Auftrag gegeben. Dessen Name kann man auf den obersten Gott Jupiter zurückführen. Denn der lateinische Wortstamm von Iuppiter lautet Iov.

Die Menschen verdummten

Nun kommen wir zu den wirklich ungewöhnlichen Namen, bei denen Freunde von „kernigen“ Namen ihre helle Freude haben: Ebraharius. An seinem Grab sieht man, wie die Menschen durch die Hinwendung zum Christentum langsam verdummten, da sie bestimmte Fähigkeiten nicht mehr erlernten.

Bevor es hier zum Aufschrei kommt: Mir ist total egal, ob jemand gläubig ist oder nicht. Religiosität ist keineswegs ein Zeichen von Dummheit, solange sie mit Verstand, Akzeptanz und Toleranz praktiziert wird. Mit dem Erstarken des Christentums in der Antike wird aber alles Heidnische abgelehnt, Techniken geraten in Vergessenheit. Fließend Wasser und Kanalisationen verschwinden, Glasherstellung wird eine Seltenheit, Lesen, Schreiben und Rechnen sind keine Selbstverständlichkeit mehr. Während Religionsoffenheit und das Kopieren sowie Verbessern von Techniken anderer Völker bei den Römern beinah einmalig war, lehnen die Christen irgendwie Fremdes ab.

Verdummung – der Beweis

Ein Beweis ist die Tatsache, dass Ebraharius‘ Mutter Ebrechildes nicht mehr weiß, wann sie ihren Sohn genau auf die Welt gebracht hatte. Er wurde nämlich etwa 35 Jahre alt. Ebraharius ist eine latinisierte Variante des biblischen Abrahams.

Die Herkunft des Namens der Mutter herauszufinden, erwies sich da als wesentlich schwieriger. Die Endung „hildes“ weist ihn eindeutig als germanischen Namen aus. Man kann darin das germanische „hilt“ (Schlacht) erkennen, ähnlich wie in Hildegard, Mechthild, Krimhild oder Brunhild. Ich vermutete, dass der erste Teil von ebur „Wildschwein“ abstammen könnte, ähnlich wie bei Eberhard, fand bei meiner ersten Suche aber kein Beweis dafür.

Sprachwandel

Nach dem Wechsel der Suchmaschine wurde ich dann aber doch in dem Aufsatz „Death and Survival of Latin in the Empire West of the Rhine (Belgicae, Germaniae) and the Rise of the Frankish-Theodisc Languages“ von Wolfgang Haubrichs fündig (eingängiger Titel). Er beschreibt darin den Sprachwandel auch anhand von spätantiken Grabsteinen; das eine oder andere Namensleckerli (Fredoara, Aso, Rainovaldus) ist da also auf jeden Fall dabei. Er kommt auch zu dem gleichen Ergebnis und verweist auf eine Ebrechhildes aus dem 7. Jahrhundert, die ebenfalls aus Trier stammte. Er erklärt, dass das „ch“ anstelle des „h“ aufgrund des romanisch-merovingischen Dialektes entstanden ist, bei dem „h“ vor einem Vokal zu „ch“ wird (vgl. S. 183).

Der ungewöhnlichste Name

Aber gehen wir nun weg vom Sprachwandel. Denn den ungewöhnlichsten Namen habe ich mir zum Schluss aufgehoben: Boethiola. Sie starb im Alter von 25 Jahren nach dreizehnjähriger Ehe. Der Name ihres Mannes ist ebenfalls Amandus. Zuallererst schlägt das Internet mir Boethiah, den der daedrischen Prinzen der Täuschung aus dem Videospiel „Elder Scrolls“ vor. Aha. Anschließend ein Hinweis, dass man eine Führung zu den Grabinschriften des Museums buchen kann, die aufzeigen möchte, welche Rückschlüsse man aus Boethiolas Leben führen kann. Leider bin ich dafür vier Jahre zu spät dran. Mist.

Anschließend setze ich all mein Wissen und meine Recherchefähigkeiten aus meinem Studium der klassischen Philologie ein und komme zu dem Schluss, dass es sich bei Boethiolas Namen um die weibliche Form des Cognomens des Vaters handelte, der Boethius hieß. Namensträger nahmen im 5. und 6. Jahrhundert hohe Ämter im antiken Rom ein wie der Gelehrte Anicius Manlius Severinus Boethius. Die „la“-Endung ist dabei ein Deminutiv, vielleicht um sie von einer älteren Schwester Boethia unterscheiden zu können.

Hilfreich und liebend

Dies wurde mir auch von Anna Hoppe, der Mitarbeiterin für die Öffentlichkeitsarbeit des Museums bestätigt. Interessanterweise ist die Form Boethiola sonst noch nicht belegt. Hiltrud Merten, die Autorin von „Die frühchristlichen Inschriften aus St. Maximin bei Trier“, vermutet, dass der Name sich von dem griechischen Substantiv für Helfer βοηθός (boethos) ableitet. Dadurch wird der Träger als „hilfreich und liebend“ beschrieben.

Gerne hätte ich noch mehr über den Namenswandel geschrieben, als das Christentum die einzige Religion wurde. Doch, wie erwähnt, verdummten die Menschen. Das letzte Grabmal in dem Raum ist ein Kreuz aus Stein. Ob das Grab für ein Kind oder einem Erwachsenen errichtet wurde, kann man nicht mehr sagen, denn nun hat der größte Teil der Bevölkerung die Fähigkeit des Schreibens verloren: Auf dem Kreuz sind lediglich ein paar Wellenlinien zu sehen.

Quelle: Wolfgang Haubrichs: Death and Survival of Latin in the Empire West of the Rhine (Belgicae, Germaniae) and the Rise of the Frankish-Theodisc Languages. 2023. In:
https://www.researchgate.net/publication/377524932_Death_and_Survival_of_Latin_in_the_Empire_West_of_the_Rhine_Belgicae_Germaniae_and_the_Rise_of_the_Frankish-Theodisc_Languages (Stand 24.05.2024)

8 Gedanken zu „Der Friedhof, Namen und ich V“

  1. Ebraharius ist bis auf die lateinische Endung eindeutig germanisch, wobei das Element hari dem neuhochdeutschen Wort „Heer“ entspricht. Man kann schön sehen, wie das Erstglied „Ebra“ in der Familie weitergegeben wird.

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  2. Den Namen Ebrechildes finde ich tatsächlich sehr klanghaft.

    Findes es äußerst spannend, wie man an den Grabinschriften die Kulturgeschichte ablesen kann.

    Nach Trier will ich schon seit Jahren gerne mal gehen. Muss aber erst die Familie von diesem Vorhaben überzeugen, oder es irgendwie arrangieren, dass ich mal alleine hinkann.

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    • Ich dachte mir, dass dir der Name gefällt.

      Trier ist wirklich schön, es gibt viele römische Bauten, die man sehen kann. Das Landesmuseum ist auch wundervoll und ich weiß, dass man unweit von Trier auch Wassersport machen kann, wenn man möchte. Und die Kirchen sind natürlich spannend zu betrachten, einkaufen kann man auch gut 🙂

  3. Habe mich auch immer gewundert warum die Leute im Mittelalter anscheinend alles wieder vergessen hatten was Römer, Griechen, Ägypter, etc. schon wussten. zB Wasserleitungen und hygienisches Verständnis, Architektur und Statik, etc.
    Uns hat man am Gymnasium immer erzählt das alles sei wegen der Völkerwanderung vergessen worden. Klingt aber zu einfach.
    Ebrechildes klingt nach einer starken Person. Die Endung -hildes oder hildis klingt etwas besser als -hild.

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    • Die Völkerwanderung war nur ein kleiner Teil (die führte teilweise auch zum Untergang des römischen Reiches, war aber wie die Christianisierung nur ein Grund von vielen). Es ist auch erschreckend zu sehne wie schnell das ging. Die Gräber sind alle zwischen dem 4 und 5. Jahrhundert entstanden.

      Mein einer Professor erzählt uns von einem altgriechischen Sprichwort: „Der ist so dumm, der kann weder schwimmen noch lesen“. Das waren Grundvoraussetzungen und dann plötzlich nicht mehr (wobei die Römer keine guten Schwimmer waren, obwohl sie eine Seemacht waren).

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