Virtuelle Stippvisite im alten Friesland

Als Kind bin ich öfter über einen Ostsee-Friedhof spaziert und mochte das eigentlich ganz gern – den besonderen Geruch, das Taubengegurr, das Kriegerdenkmal, all die Namen und Daten. Meine Eltern haben in der Zeit das Grab meiner Oma gepflegt, um die ich, weil ich sie nie kennenlernen konnte, eher abstrakt getrauert habe. In späteren Jahren bin auch mal nur so über Friedhöfe geschlendert; noch ein Vierteljahrhundert später erinnere ich mich an einen Namensfund in Rastede im nordwestlichen Niedersachsen: „Sieben Dirk“ plus ein Nachname stand da auf einem Grabstein. Eine Zahl als Vorname?!


Die Recherche für unser neues Buch hat mich nun wieder auf Friedhöfe geführt. Äußerst pandemietauglich musste ich dazu keinen Fuß vor die Tür setzen: Über grabsteine.genealogy.net, ein von Ehrenamtlichen betriebenes Projekt für die Familienforschung, habe ich gezielt alte Friedhöfe in Ost- und Nordfriesland angesteuert. So unwahrscheinlich ist es schließlich nicht – dem Emilismus sei Dank –, dabei auf alte Namen aus der Region zu stoßen, die Potenzial für Spielplätze und Kindergärten haben.

Vom Ergebnis war ich allerdings erst mal etwas ernüchtert: Ob auf Norderney oder Amrum, die erwarteten typisch friesischen Namen waren bei meinen Stichproben in der Unterzahl. Die „üblichen Verdächtigen“ aus der Urgroßelterngeneration wie Ferdinand oder Hilde überwogen. Allerdings kann es durchaus sein, dass auf Grabsteinen Taufnamen stehen, von denen mancher im Alltagsgebrauch von einem regionalen Kürzel überlagert wurde. Umgekehrt ist es mehr als wahrscheinlich, dass der Inhaber des Grabsteins, den ich im nordfriesischen Bordelum gefunden haben und auf dem „Kuddel“ steht, eigentlich Karl hieß. Bei der 1903 geborenen Dame namens Mieze, von der ich auf demselben Friedhof gelesen habe, bin ich mir schon weniger sicher: Ob das wohl wirklich ihr Name war – oder doch Maria?

Passenderweise in St.-Peter-Ording entdeckte ich eine Petrea. Und noch mehr auf -ea endende Frauennamen aus Büsum und dem ostfriesischen Juist: Elsabea, Elsebea, Dorathea (ein Tipp für Eltern, die keine „Doro“ möchten?) sowie die etwas gewöhnungsbedürftigeren Popkea und Wobkea. Weitere typische Endungen für alte Nord- und Ostfriesinnen scheinen -ine und -ina zu sein. Engeline, Eltine, Ettine, Fokoline, Ingeline, Jabine, Jürgine (wie da wohl der Papa hieß?) und Sine sowie Jusina und Sosina habe ich mir notiert. Bei einer 1885 geborenen Juisterin mit dem Vornamen Ehmine hat es der Kosename zusätzlich aufs Grabkreuz geschafft: Miele.

Was noch auffällt: Außer bei so gut erkennbar weiblichen Endungen oder auch klar männlichen Namen wie Boy oder Broder („der Jüngere“ und „der Bruder“, Funde aus Nordfriesland) kann man bei den alten Friesennamen in puncto Geschlecht schon mal ins Schwimmen geraten. So sind Hima, Ketel und Pay wider Erwarten männlich: Hima ist ein kürzerer Hilmar, Ketel kommt vom altnordischen Ketill („Kessel“, „Helm“) und Pay ist eine nordfriesische Variante von Paul. Den Namen Wemke kennt das Internet als weiblich; ich habe ihn auf Norderney aber auf einem Gedenkstein für Krieger aus dem Ersten Weltkrieg gefunden. Oder Theede: kein Mädchen, sondern ein friesischer Theodor oder Dietrich. Dafür ist aber Geelke weiblich („Fröhliche“). Auch Trientje ist weiblich, eine plattdeutsche Verkleinerungsform von Katharina. Nur zwei Buchstaben gestrichen, und man hat Tietje – einen verkürzten Dietrich. Die Grenze zwischen männlich und weiblich sei bei den (ost-)friesischen Namen „äußerst durchlässig“, heißt es bei Wikipedia.

Eine meiner kurioseren Entdeckungen kommt aus Ostfriesland: Ufo – zwar eindeutig männlich, aber wohl eher nicht empfehlenswert. Dafür könnte die niedliche Mali, ein Fund aus Nordfriesland, durchaus das Zeug zum Modenamen haben. Die Trägerin dieser Kurzform von Amalie oder Malwine wurde in den 20er Jahren geboren. Eltern sollten sich nur fragen, inwieweit sie der gleichnamige Staat in Westafrika stört.

17 Gedanken zu „Virtuelle Stippvisite im alten Friesland“

    • Meine Vorfahren kamen aus Nordeutschland, mir sind Mali, Jella, Meri vertraut, auch Kuddl, allerdings als Kosenamen von Kurt.

  1. Ich spaziere ganz gerne über unseren Waldfriedhof, dort sind noch viele alte Gräber (eine Frau, Dorothea hieß sie, glaube ich, wurde sogar 1700 irgendwas geboren) und bin immer wieder erstaunt, dass die Namen, der Gräber, um die Jahrhundertwende Namen zieren, die ich heute als Babynamen lese:
    Emil, Antonia, Emma, Mina, Ella, Karl.

    Friesische Namen sind für mich aus dem Süden immer noch was Besonders. Dorathea finde ich nett, aber da werden die meisten wohl erst Dorothea verstehen (heißt die Enkelin von Gabriele nicht so?)

    Ingeline finde ich süß. Jürgine, wow, den haben ich noch nie gehört. Ich gehe mit und setzte Ludwine- den habe ich diese Woche in einer Beerdigungsanzeige gelesen, Ludwiga kenne ich, aber Ludwine war mir neu.

    Pay- gesprochen wie das englische Wort „Pay“ oder deutsch „Pei“?

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  2. Bei „Ufo“ muss ich erinnerungsselig schmunzeln.
    Ich war etwa 7 Jahre alt und hatte der neuen Familie meines leiblichen Vaters einen Besuch abgestattet, wo ein Halbbrüderchen zur Welt gekommen war. Dieses hieß Ivo, das war ein Name, der in meinem kindlichen Kosmos bis dahin noch nie vorgekommen war. So wusste ich ihn auch nicht mehr, als ich zu Hause dann danach gefragt wurde: „Keine Ahnung… ich glaube, das Baby heißt UFO…“

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  3. Danke für einen erneuten total interessanten Beitrag–genieße Deine Beiträge immer sehr. Friesische Namen sind unheimlich spannend–da hat sich wirklich eine Parallelkultur zur allgemeindeutschen entwickelt, die es in dieser starken Regionalausprägung nirgendwo anders gibt.

    Besonders hübsch finde ich Ingeline. Habe neulich einen Dokumentarfilm über die Färöer-Inseln angeschaut (diese kleine Inselkultur finde ich unheimlich spannend), und da kam eine Ingilin vor, gesprochen In-dsche-lien. Fand ich schön, vom Klang her, und der Bezug zu Inge und dem nordischen Götternamen ist ja klar. Tatsächlich mag ich auch Fokoline–nicht, dass ich mich trauen würde (auch wenn in Friesland lebend) den in der heutigen Zeit zu vergeben, aber mich persönlich spricht der Name an. Charmant, gerade weil nicht so der heutigen Zeit angepasst, und für den O-Laut hab ich auch einfach viel übrig.

    Die Namen auf -ke und -tje mag ich generell. Mir ist da auch schon aufgefallen, dass die Übergänge von männlich und weiblich nicht so klar markiert sind. Ist im Englischen ja auch tendenziell so, dass Namen nicht immer eindeutig zugeordnet werden können, und das Englische und Norddeutsche haben oft viel gemeinsam, sprachlich und kulturell.

    In meinem hessischen Umfeld in den 80er Jahren wuchs ich mit jungen Antjes, Ankes und Heikes auf, aus Norddeutschland stammend gab es auch einen Eike und eine Imke, und dann gab es noch in der älteren Generation Silkes und Elkes. Find ich alles schön, nur schon eher in Norddeutschland oder bei norddeutschem Hintergrund. Besonders gefallen mir Imke und Silke–scheinbar habe ich eine Neigung zu Namen mit prägnantem I.

    Den Namen Deiner Vorfahrin, in einem anderen Beitrag erwähnt, Engelke, finde ich besonders schön.

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  4. Frage: versuche mir ein Bild zu machen, woher Popkea und Wobkea kommen. Weißt Du, oder irgendjemand, woher diese Namen sich ableiten?

    Finde sie schon irgendwie cool, muss ich sagen, nachdem man erstmal geschluckt und sich drauf eingestellt hat, das sie außerhalb gewohnter Klangrahmen liegen und erstmal nach Popmusik und ähnlichem klingen.

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    • Gefunden habe ich die Namen auf Juist, die Trägerinnen waren Jahrgang 1908 und 1911. Ich hatte hier ja schon mal eine Kea im Interview, die Endung scheint typisch zu sein.

      Wenn ich das richtig ergoogelt habe, gibt es auch den Männernamen Popke, der sich wie Popkea auf eine (kleine) Puppe bezieht, eine Bezeichnung für ein Baby also.

      Wobkea soll für „schön, glänzend, strahlend“ stehen – ob’s stimmt …?

    • Zuerstmal muss man die Namen zerlegen, -kea ist eine Endung (bestehend aus der norddeutschen Verkleinerungssilbe -ke und einem schicken zusätzlichen -a für mehr Klang und Weiblichkeit), dann bleiben die Stämme Pop- und Wob- übrig. Wob- mit Namen wie Wobbe (m) ist eine Kurzform von Namen wie Wollbrecht mit der Erstglied Wol(l)- und einem zweiten Teil, der ein b einbringt.

      Poppe (m) wird bei der NVB (Nederlandse Voornamenbank) als Koseform von Namen auf Volk- wie Volkbert erklärt, aber auch andere Namen wie Bodo oder Jakob können sowie abgeschliffen werden. Der Name Poppo war im frühen Mittelalter ziemlich verbreitet, verschiedene Bischöfe und Erzbischöfe sowie Fürsten trugen ihn.

    • Ui, das ist ja noch mal ganz was anderes, danke! Zeigt mal wieder, dass man beim Googeln gefundenen Herleitungen oder Bedeutungen immer mit gesundem Misstrauen begegnen sollte 🙂

    • @Annemarie Mit etwas gutem Willen kann man das „glänzend, strahlend“ noch aus dem Zweitglied -bert/-brecht rechtfertigen, aber das ignoriert den ersten und klangtragenden Teil des Namens total.

  5. @ Annemarie und Elbowin:

    Vielen Dank für Eure interessanten Antworten!

    Die „kea“-Endung bei friesischen Namen hat mich schon lange verwirrt. „-ke“ lässt sich ja sehr leicht als das norddeutsche „-chen“ einordnen, aber mit der A-Endung fand ich das verwirrend. Du hast sicher Recht, Elbowin–„-kea“ ist eine Weiterbildung der häufigen „-ke“-Endung, um den Namen klanghafter und/oder weiblicher zu machen.

    Viele friesischen Kurzformen sind ja nicht eindeutig etymologisch geklärt, bzw. können sich von unterschiedlichen Vollformen ableiten. Eure Ideen zu Popkea, z.B., könnten vielleicht beide stimmen–auf der einen Seite, die Puppe (wie bei Theodor Storms „Pole Popenspäler“/Paul Puppenspieler) oder Namen mit „Volk-“ oder Poppo oder Jakob könnten hier Pate gestanden haben. Für die Erklärung von Wobkea auf die Namensform Wobbe zu schauen ist sicher auch sinnvoll–wäre ich nicht drauf gekommen, auch weil ich die Kurzform Wobbe nicht gekannt habe.

    Jetzt bin ich froh, dass ich die Frage gestellt habe–hat interessante Einsichten gebracht! Danke Euch beiden!

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