Namensgebung läßt auf jüdisches Selbstbewußtsein schließen

Unter anderem aus der Auswahl der Vornamen schließt der Historiker Michael Wolffsohn darauf, dass sich in Deutschland ein selbstbewußtes Judentum entwickelt hat. Anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Buchs „Deutschland, jüdisch Heimatland: Die Geschichte der deutschen Juden vom Kaiserreich bis heute“ nimmt er in BILD Stellung:


Wolffsohn: „Wir vergleichen: Welche Vornamen haben die deutschen Juden ihren Kindern in der Zeit zwischen 1860 und 1938 gegeben, welche wählen sie heute? Mit der Namensgebungen verraten Eltern viel über ihre Lebenseinstellung. Wenn vor 100 Jahren Juden ihren Sohn ausgerechnet „Siegfried“ nannten, wie die Eltern der Literaten Kracauer oder Jacobsohn, dann bettelten sie ja geradezu um Liebe und Anerkennung der Mehrheit. Wir haben festgestellt: Unter den 20 beliebtesten Vornamen vor dem Zweiten Weltkrieg waren nur zwei traditionell jüdisch. Heute tragen 50 Prozent der deutschen Juden orthodox jüdische Vornamen.“

BILD: Aber auch nichtjüdische Deutsche schätzen jüdische Vornamen wie Sara oder David.

Wolffsohn: „Das widerspricht nicht unserem Befund. Die wachsende Beliebtheit solcher Namen zeigt auch, wie sehr sich die deutsche Gesellschaft gegenüber der jüdischen Gemeinschaft geöffnet hat.“

Michael Wolffsohn ist in Tel Aviv geboren und seit 1981 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München tätig.

Ergänzung: Am 17.10. hat auch Stephan Karkowsky im Deutschlandradio Kultur mit Michael Wolffsohn gesprochen. Thema war die Methode, Aussagen über die öffentliche Meinung der Juden in Deutschland anhand der Vornamen zu treffen. Hier der relevante Auszug aus dem Interview:

Wolffsohn: Die Grundidee ist die, dass ein Vorname, egal wo und wann er vergeben wird, ein Signal von innen nach außen ist, das Signal der Namensgeber, also der Eltern oder Alleinerziehenden, was ihnen wichtig, lieb ist, auch modisch natürlich den jeweiligen Veränderungen unterworfen ist. Konkretes Beispiel: Wenn Nichtjuden ihr Kind heute Sara nennen, dann ist das ein Modename, im Jahre 1940 wäre kein Deutscher auf die Idee gekommen, kein nichtjüdischer Deutscher, das eigene Kind, Töchterlein, Sara zu nennen. Also Moden unterliegen natürlich auch hier dem Wechsel, und gerade daran kann man eben sehen, was sich wann und wie heftig verändert hat.

Stephan Karkowsky: Aber der Rest ist Interpretation! Ich wende dagegen ein: Heute würden wahrscheinlich auch die meisten Nichtmoslems in Deutschland ihr Kind nicht Mohammed nennen, aber daraus zu schließen, dass sie antiislamische Vorstellungen haben, wäre wahrscheinlich verkehrt.

Wolffsohn: Das ist auch nicht der Punkt. Insofern ist das Beispiel weiterführend und wegführend vom eigentlichen Thema. Wenn aber jüdische Eltern ihr Kind Hirsch nennen oder Jankel oder Esther und in der nächsten Generation Brunhild oder Siegfried oder Peter oder Hans, dann ist natürlich ein dramatischer Unterschied erkennbar.

Stephan Karkowsky: Das habe ich gelernt aus Ihrem Buch: Deutsche Juden haben sich im Kaiserreich überwiegend nichtjüdische Namen gegeben ab einer bestimmten Periode, da hießen die Frauen dann Berta und Frieda und die Männer Maximilian und Hermann, eben genau wie die christlichen Deutschen. Nun wissen die Historiker ja schon eine geraume Zeit: In dieser Zeit haben die Juden relativ große bürgerliche Freiheiten genossen, und das haben sie genutzt, um in der deutschen Gesellschaft aufgehen zu wollen, muss man sagen, es hat ja dann nicht funktioniert. Was können uns da die Vornamen Neues erzählen?

Wolffsohn: Die Methode, es ist kein Buch über Vornamen, sondern die Methode sagt uns, wann, wie heftig und in welche Richtung die Juden ihre jüdische Identität allmählich abgestreift haben und eine nichtjüdische übergestreift. […]

Stephan Karkowsky: Sie sagen dann auch, nach dem Holocaust ändert sich das Bild, die Juden in Deutschland geben ihren Kindern heute offen jüdische Namen, David, Benjamin, Miriam, Sara. Was schließen Sie daraus?

Wolffsohn: Wir schließen daraus – und das kann man vor allem im großen Zeitraum vergleichend feststellen -, dass die heute in Deutschland lebenden Juden, mehr als die Hälfte von ihnen, willentlich und offen sich zur, ich formuliere bewusst allgemein, jüdischen Welt orientieren, an der jüdischen Welt orientieren. Ob sie dabei religiös sind mehr oder weniger, können wir auch erkennen, denn wenn die Namen Abraham zum Beispiel gewählt werden statt David, dann ist das natürlich sehr viel stärker in einer religiösen Tradition, während David eher ein nationales Symbol ist.

Auf rp online erläutert Wolffsohn, auf welche Namenslisten er sich in seiner Studie bezieht:

Zum einen die Volkszählung von 1939 sowie neuere und ältere Daten aus den größten jüdischen Gemeinden in Deutschland. Mit Daten von mehr als 250 000 Menschen allein von 1860 bis 1939 und 80 000 vom Jahr 1995 bis 2000 ist unsere Umfrage keine Addition von Einzeldaten, sondern mehr als repräsentativ.

Die häufigsten männlichen Vornamen im Zeitraum 1860 bis 1938 bei den deutschen Juden laut der Volkszählung 1939:

  1. Max
  2. Julius
  3. Hermann/Herrmann
  4. Alfred
  5. Josef/Joseph
  6. Hans
  7. Sigfried / Siegfried
  8. Kurt/Curt
  9. Jakob/Jacob
  10. Ernst

Gewagt findet Die Welt die Behauptung, dass Judentum im Deutschland von heute sei sehr viel „jüdischer“ als das Judentum von vor 1933: Spielen bei der Namensfindung vielleicht doch andere Motive eine Rolle, die man verstehen muss, wenn man wissen will, warum zu bestimmten Zeiten Familien ihren Sprösslingen bestimmte Namen geben?

Schreibe einen Kommentar