Namengebung ohne allen Sinn und Verstand

Das in unserer Zeit bei der Namengebung ohne allen Sinn und Verstand verfahren werde, haben verständige Männer längst gerügt.

Allein die altmodische Formulierung lässt darauf schließen, dass dieses Zitat schon etwas älter ist – für die These gibt es auch „in unserer Zeit“ viele Anhänger!


Gefunden habe ich diesen Satz in der Novelle „Michel. Geschichte eines Deutschen unserer Zeit“ von Johannes Scherr aus dem Jahr 1858. Im folgenden Abschnitt diskutieren die Eltern über den Namen ihres Sohnes:

Große Debatte über den unglückseligen Namen Michel

»Du weißt, es hat mich stets geärgert und gekränkt, daß unser Bub den unglückseligen Namen Michel führt …«
»Warum nicht gar!«
»O, du weißt es wohl. Du solltest auch noch nicht vergessen haben, wie tödlich ich erschrak, da ich, als ihr den Täufling aus der Kirche zurückbrachtet, erfahren mußte, daß du ihm als ersten Namen Michel gegeben habest und erst als zweiten den Namen Siegfried, wie sein Pate, mein Bruder selig, hieß.«
»Alte Geschichten, Trudchen, alte Geschichten. Im übrigen hab‘ ich nie begreifen können und begreife auch jetzt noch nicht, wie du gegen den ehrlichen Namen Michel eingenommen sein konntest und kannst.«

Die Hand meiner Mutter lag nicht mehr auf der meines Vaters, als sie erwiderte:
»Gegen den ehrlichen? Gegen den garstigen, gemeinen, pöbelhaften, willst du sagen. Nur Fuhrleute und Holzhacker heißen Michel.«
Der Stuhl meiner Mutter, als wäre er ein fühlendes Wesen und gehorche den Stimmungen der auf ihm Sitzenden, rückte wie von selbst eine Spanne weit von dem meines Vaters weg.

»Daß ihr Frauen doch alle eingefleischte Aristokratinnen seid!« sagte mein Vater gleichmütig und setzte an, um einen recht großen Ring zu blasen. Aber er brachte es nicht zustande, wahrscheinlich aus Schrecken über die zwischen den Brauen meiner Mutter abermals sich entwickelnde Falte. Der Rauch kam ganz wolkig und anarchisch aus seinem Munde.

»Ich bin keine Aristokratin, ich!« versetzte meine Mutter gereizt. »Ich weiß, daß Fuhrleute und Holzhacker ganz gute und achtbare Menschen sein können und oft auch wirklich sind. Aber wer wird es einer armen Mutter verübeln, wenn sie nicht will, daß ihr einziger Sohn so fuhrmännisch oder holzhackerisch heiße? Bitte, lieber Fritz, wir wollen den Knaben künftig nur mit dem Namen Siegfried rufen.«
»Liebes Kind, ich habe ganz und gar nichts dagegen, wenn du den Jungen lieber mit dem Namen Siegfried rufst.«
»Nicht so, Alterle, nicht ich allein. Du und alle, alle sollen ihn künftig so rufen. Er soll sich auch künftig nur noch Siegfried Helmut schreiben, nicht mehr – doch ich will den garstigen Namen gar nicht mehr auf die Zunge nehmen. Er klingt so roh, so flegelhaft …«
»Aber, Schatz, der Junge ist ja gerade auch in den Flegeljahren.«

Ohne diesen Einwurf zu beachten, fuhr meine Mutter eifrig fort:
»Siegfried dagegen, wie klingt das vornehm, stolz, heldisch! Hast du mir, als du mich im letzten Winter beredetest, das lange, lange Nibelungenlied zu lesen, nicht zu wiederholten Malen gesagt, der Siegfried sei der herrlichste aller Helden unserer alten Sagenwelt gewesen?«

Das hieß meinen Vater an einer seiner schwächsten Seiten anfassen, an der Begeisterung, welche er den Erinnerungen vaterländischer Heldensage weihte.
»Diplomatin du!« gab er lachend zur Antwort.
»Ach nein,« versetzte meine Mutter abwehrend. »Ich weiß und will nichts von der Diplomatie. Ich verlasse mich lediglich auf mein Muttergefühl. Das sagt mir, daß der Name Michel ein Unglück für den Knaben sei, weil voll der übelsten Vorbedeutung. Was kann aus einem Michel werden?«
»Etwas Rechtes, liebes Kind, etwas Rechtes!« erwiderte mein Vater eifrig.

Und indem er die Pfeife fest mit den Zähnen packte und mit dem Zeigefinger der rechten Hand demonstrierend auf die innere Fläche der ausgestreckten tippte, fuhr er fort:
»Ich muß dir sagen, Gertrud, du hegst da in der Tat einen wunderlichen Aberglauben. Der Name Michel sei von übler Vorbedeutung, meinst du? Welcher krasse Irrtum! Als ob ich dem Jungen den Namen nicht mit rechtem und reiflichem Vorbedacht gegeben hätte!«
»Ja, mir zum Ärger.«
»Trudchen, Trudchen, jetzt sieh, das glaubst du selber nicht.«
»Hm,« murmelte meine Mutter, und ihr Stuhl entfernte sich immer weiter von dem ihres Eheherrn.
»Nicht dir zum Ärger, Gertrud, sondern weil ich der Hoffnung lebte, daß zwar nicht ich selber, wohl aber unser Junge eine Zeit erleben werde, wo jeder Deutsche stolz sein würde, ein deutscher Michel zu heißen.«
»Warum nicht gar!«
»Alles Ernstes! Das in unserer Zeit bei der Namengebung ohne allen Sinn und Verstand, ohne alles vaterländische Gefühl verfahren werde, haben verständige und patriotische Männer längst gerügt. Es ist ganz und gar nicht unwichtig, was für einen Namen der Mensch trage.«
»Da hast du leider nur zu recht!«
»Als mir daher meine selige Mutter den großen, kräftigen Jungen, den du mir Glücklichem gegeben, zuerst in die Arme legte und du von deinem Bette her voll Freude flüstertest: ›’s ist ein starker Bub‘, liebster Fritz!‹ und der Bursch gar nicht weinerlich tat, sondern mich mit seinen dunklen Augen frisch und keck anguckte, und mit seinen Händchen nach meinem Backenbart zu langen versuchte, da beschloß ich bei mir: Der soll Michel heißen!«
»Eine höchst vortreffliche und glückliche Namenwahl… in der Tat!«
Meine Mutter bemühte sich offenbar nach Kräften, diese Einschaltung spöttisch zu betonen, aber es ging nicht recht; die in den letzten Worten meines Vaters liegende Erinnerung an eine Stunde voll Mutterseligkeit ließ es nicht zu.

»Eine vortreffliche und glückliche Namenwahl allerdings!« bestätigte mein Vater mit Nachdruck.
»Ei ja doch!«
»Freilich, freilich. Sträube dich immerhin, Trudchen; aber sieh, du bist zuletzt doch viel zu verständig, um einer augenscheinlichen Tatsache widersprechen zu wollen.«
»Geh doch!«
»Im Gegenteil, ich komme erst angerückt, liebes Kind, und zwar an der Spitze einer ganzen Armee schwerbewaffneter Gründe.«
»Verschone mich! Ich bin wahrhaftig nicht zum Scherzen aufgelegt.«
»Ich ebensowenig. Zwar hat, wie du weißt, eine gütige Fee… nein, zum Henker mit den Feen! ’s ist keltisch-französisches Lumpenzeug … also eine Elfin hat mir, wofür den Göttern Lob und Preis sei, den Humor als unzerstörbares Angebinde in die Wiege gelegt, allein dessenungeachtet werde ich wissenschaftliche Gegenstände stets mit dem gebührenden Ernste behandeln.«
»Du lieber Gott, als ob der Name Michel etwas mit der Wissenschaft zu tun hätte.«
»Siehst du, jetzt paßt mal wieder Schillers Satz: Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort – wie angemessen auf dich, liebe Alte …«
Der Widerspruch in dieser Äußerung wirkte so komisch, daß ich ums Haar in ein lautes Lachen ausgeplatzt wäre. Meine Mutter empfand den prickelnden Reiz ebenfalls und vermochte ihm nicht ganz zu widerstehen.
Ihr Lachen hatte etwas Anmutiges, Ach, alles an ihr war anmutig – sogar ihr Schmollen.

Mein Vater in seiner demonstrativen Laune fuhr dozierend fort:
»Es ist festgestellt und meines Wissens auch gar nirgends bestritten, daß das altdeutsche Wort michel durchaus identisch ist, nämlich dem Sinne nach, mit unserm norddeutschen Wort stark, gewaltig, mächtig, riesenhaft. Bei unseren mittelhochdeutschen Dichtern finden sich die Belegstellen genug dafür. So z. B. sagt Hartmann von der Aue, der Wieland des Mittelalters, in seinem Iwein ›der michel Knabe‹ und in seinem Crek ›der michel Mann‹, wo er nach unserm heutigen Sprachgebrauch in jenem Falle gesagt hätte ›der Riesenknabe‹, in diesem der ›Riese‹. Ausdrücke, wie ›es nimmt mich michel wunder‹ für ›es nimmt mich gewaltig wunder‹ und andere dergleichen, wo sich mit dem Wort michel immer der Begriff des Bedeutenden, Starken, Gewaltigen, Ungewöhnlichen verbindet, sind in unserer mittelhochdeutschen Literatur gang und gäbe. Ich werde dir das bei nächster Gelegenheit an Dutzenden von Beispielen schwarz auf weiß beweisen. Und so wäre denn dargetan, wie ganz irrtümlich deine Meinung war, der Name unseres Jungen sei von mißlicher Bedeutung und übler Vorbedeutung. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil, der Name Michel ist von sinniger Bedeutung, voll glücklicher Vorbedeutung, ist ein rechter Kern- und Ehrenname. Die Sache ist dir jetzt klar, völlig klar, nicht wahr?«
»O ja, sie ist mir klar, völlig klar, das heißt, ich weiß jetzt, daß mein armer Junge den abscheulichen Namen nicht loswerden soll.«

Der Wissenschaftler und Schriftsteller Johannes Scherr wurde 1817 in Schwaben geboren und starb 1886 in der Schweiz, wohin er wegen seiner politischen Aktivitäten während der Revolution 1848 flüchtete.

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