Selma, Gustav und der kleine Vampir

Bei manchen Sätzen kann man wirklich nur staunen, dass man das mal gesagt hat. Ich erinnere mich gut daran, wie ich mir im Alter von etwa zehn vorgestellt habe, wie es gewesen wäre, wenn ich nicht (wie es der Fall ist) den Namen meiner einen Oma, sondern die beiden Namen der anderen Oma geerbt hätte: „Gertrud ginge ja noch. Aber Selma? Furchtbar!“ – das waren meine Worte.


Gut dreißig Jahre später finde ich die Vorstellung, ich hieße Gertrud, vollkommen abstrus. Lieber halte ich es mit Else Ury, die ihr „Nesthäkchen“ (Annemarie!) bei einer Puppentaufe sagen lässt: „Gertrud heißen doch nur alte Damen.“ Oma Gertruds Zweitnamen Selma hingegen habe ich sogar meiner Tochter mitgegeben.

Nun ist so ein Sinneswandel natürlich nichts Ungewöhnliches. Ich mochte als Kind nicht nur den Namen Selma nicht, ich mochte auch keinen Käse, keine Tomaten und keine Jungs. Was ich daran nur immer wieder so spannend finde, ist, dass viele Menschen in ihrem Urteil gleichzeitig umschwenken können, sich ein neuer Konsens bildet, ohne dass man den Finger darauf legen könnte, wann und warum das geschieht.

Anderes Beispiel: Als Teenager waren die Schlaghosen, die man manchmal in älteren Filmen sah, für mich das Schrecklichste vom Schrecklichen. Irgendwann schlich sich aber das 70er-Revival an und trug sie auch in meinen Schrank, die Schlaghosen. Erinnerten ja auch schön an die Kindheit. Und noch ein Name: Mitte der 90er traf ich einen jungen Mann, der Gustav hieß – und habe ihn bedauert. Heute finde ich seinen Namen toll. Und: Obwohl kein Mainstream (zuletzt Platz 191, eine ähnliche Platzierung übrigens wie Selma (202)), reiht Gustav sich wunderbar in die Riege der alten Namen ein, die man immer öfter hört: Paul, Karl, Julius, Theo, Richard …

Oder: Anton. Als ich meiner Tochter neulich Angela Sommer-Bodenburgs „Der kleine Vampir“ vorlas, stieß ich auf folgende Passage, in der Menschen- und Vampirkind sich einander vorstellen:

„Übrigens, wie heißt du eigentlich?“
„Anton. Und du?“
„Rüdiger.“
„Rüdiger?“ Fast hätte Anton laut losgeprustet, aber er konnte sich gerade noch beherrschen. Schließlich wollte er den Vampir nicht (…) in Wut bringen.
„Ist aber ein hübscher Name“, sagte er. (…)
Der Vampir sah geschmeichelt aus. „Anton ist aber auch ein hübscher Name.“
„Find ich überhaupt nicht“, sagte Anton, „in der Schule lachen sie immer. Aber mein Vater heißt auch Anton, weißt du. (…) Und mein Opa hieß auch schon Anton. Als ob mich das interessiert.“

Sein Hänselpotenzial von einst – das Buch erschien 1979 – hat Anton locker hinter sich gelassen: Zuletzt schaffte er es sogar in die Top 30. Rüdiger und Gertrud können davon nur träumen.

13 Gedanken zu „Selma, Gustav und der kleine Vampir“

  1. Selma und Gustav finde ich auch wunderschön! Als Kind stand ich ebenfalls mehr auf die „modernen“ Namen. Wann der Sinneswandel erfolgt ist, kann ich nicht sagen, meine Jungs haben jedenfalls auch schöne alte deutsche Namen mitbekommen (Otto Wilhelm und Arndt Oke) – wobei Oke eher friesisch ist.
    Viele Grüße, einen schönen dritten Advent! Dörthe

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  2. Sinneswandel sind schon seltsam. Wenn ich mir heute vorstelle, dass ein kleines Kind Stephanie oder Anja heißt…nee, das geht nicht. Dabei gingen doch genau solche Kinder mit mir in den Kindergarten.

    Bei dem Namen Mathilda ist es genau andersrum. Als ich erfahren hab, dass Bekannte ihre Kind so nennen wollen, fand ich das seltsam. Mittlerweile ist der Name in meinem Kopf total etabliert für kleine Mädchen.

    Rüdiger und Gertrud dürften diesen Sinneswandel aber bei mir nicht hervorrufen. *lach*

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  3. Auch ich liebe die neuen ‚alten Namen‘! Finde Selma und Gustav wunderschön, kenne zwei kleine Selmas und einen Gustav :-). Ich würde meine Kinder auch so nennen, wenn sie nicht schon Johanna und Julius heißen würden :-)! …und selbst Wilhelmine stand auf meiner Liste!
    Einen kleinen Rüdiger und eine Neugeborene Kathrin kenne ich aber zum Beispiel!
    …. Namen, wie Sieglinde, Heidrun, Rosalinde, Hildegard, Waldemar, Gertrud, Dietmar, Wolfram usw.kann ich mir momentan überhaupt nicht vorstellen! Die Jugendlichen in unserem Verein stehen übrigens eher auf Stanley usw., wenn sie Kinder hätten, mal sehen, ob sie später dann vielleicht eine Gertrud bekommen ;-)!?

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    • Danke, Schtroumpfette! Ich liebe diese Namen schon sehr lang, weil sie mich auch aus Erzählungen über meine Ururgroßeltern bzw. deren Geschwister ständig irgendwie begleitet haben!
      Beide Mäuse haben allerdings zwei Vornamen, die wesentlich seltener sind ( Hitliste ab 200 ), nur für den Fall, sie mögen ihre Erstnamen irgendwann nicht so sehr wie ich :-), dann nennen sie sich eben anders ;-)!

  4. Gustav ist einer meiner Lieblingsnamen für Jungen, besonders, da einer meiner Uropas so hieß und damit noch ein familiärer Bezug besteht. Ich glaube aber, dass mein Lebenspartner den Namen nicht als Erstnamen durchwinkt, wird also wohl nur als Zweitname in Betracht kommen.
    Selma könnte ich mir ebenfalls vorstellen.

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  5. Interessanter Artikel! Sinneswandel sind echt ein Phänomen für sich…. Mir fällt dazu ein, dass ich als ganz kleines Kind (Kindergartenalter) den Namen Eva schön fand – vermutlich, da meine damalige beste Freundin so hieß. Heute mag ich den Namen nicht mehr.

    Kinder haben ja generell noch keinen guten Überblick, was später wohl auch den einen oder anderen Sinneswandel hervorruft. Dabei denke ich an die Umstände, als ich den Erstnamen meiner einen Oma erfahren habe. Sie heißt Käthe und ich war damals sehr verwundert über den Namen, da ich bis dato nur eine Person dieses Namens kannte: Tante Käthe alias Rudi Völler! 😉

    Anton kannte ich als Kind natürlich aus „Michel aus Lönneberga“, denn so heißt Michels Vater. Ich fand es damals immer schön, wie Michels Mutter Alma den Namen ihres Mannes aussprach: mit langem o. Aber weder in der genannten noch in der gängigen Aussprache konnte ich mir Anton damals für ein Kind vorstellen. Heute sieht das ganz anders aus.

    Der Name Selma ist mir erst vor ein paar Jahren in Frankreich zum ersten Mal begegnet und er hat mir auf Anhieb gefallen. Gustav kannte ich schon immer, da einer meiner Großonkels so heißt. Obwohl der Name schon eine ganz bestimmte Aura hat, zog er mich aber noch nie in seinen Bann.

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  6. Als ich etwa in der 5. oder 6. Klasse war (also 1991/1992) war eine Martha in meiner Paralellklasse.
    Ich weiß noch das ich nach Hause bin und meinte „Mama, da heisst eine Martha. Wie peinlich ist das denn , wenn dich ein Junge fragt wie du heisst und dann musst du sagen Martha?!“
    Ich fand da sowas von alt und unmöglich.
    Heute find ich den Namen schön
    Gertrud kann ich mir für ein Kind nicht vorstellen, weder damals noch heute, liegt aber sicherlich auch dran, dass meine Oma (93j) so heisst.
    Gustav haut mich auch nicht um.
    Selma find ich schön, so heisst ein kleines Mädchen bei meiner Tochter im Schwimmkurs.

    Und das mal meine Tocher Louisa Emilie heisst, hätte ich früher nie gedacht.
    Für ein weiteres steht Hermine sehr hoch im Kurs. Auch kein Name den ich früher auch nur ansatzweise in Erwägung gezogen hätte

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  7. Liebe Frau Lüning,
    den Artikel bitte aufheben und später mal den Enkeln vorlegen. Ich könnte mir denken, die finden Gertrud und Rüdiger totschick und Selma und Gustav zum gähnen 🙂

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  8. Ich habe auch schon einen Sinneswandel hinter mir.
    Mir gefallen immernoch größtenteils die Namen, die mir als Kind gefallen haben. Damals habe ich allerdings noch keine Rücksicht darauf genommen, ob ich einen Namen korrekt aussprechen kann, oder ob er zu einem urdeutschen Nachnamen passt. Heute ist mir das wichtig.

    Selma gefällt mir klanglich ganz gut, aber ich mag ihn nicht besonders. Das mag sich widersprechen, aber Selma ist einer der wenigen Namen, die mir durch einen Träger verleidet wurden. Damals, in der Grundschule (!) gab es eine Selma in der Parallelklasse. Ein schreckliches Ding, das andere Kinder grundlos beschimpft und angespuckt hat. In meiner behüteten Welt und Grundschule eine Rarität. Und ich konnte damit gar nicht umgehen. Ich war auch sogar selbst mal das Opfer einer Spuckattacke. Das hat mich so empört und geprägt, dass mir selbst heute, nach 25 Jahren, der Name nicht so sympathisch ist, wie er es sicherlich verdient hätte. 😉

    Gustav dagegen finde ich ganz toll. Und auch Rüdiger und Gertrud finde ich ok. Wäre doch niedlich mal eine kleine Getrud kennenzulernen.

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  9. Zehn Jahre später …

    Der Anton-Rüdiger-Dialog klingt heute richtig lustig, denn wir haben einen Fußballnationalspieler mit dem vollen Namen Anton Rüdiger.

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